Erzähltradition - Zwischen Volksüberlieferung und Kunstform
Elemente von Märchen und Sagen lassen sich in den verschiedensten literarischen Verkleidungen schon lange vor den Brüdern Grimm nachweisen. Gattungsmäßig eigenständige Märchentexte kristallisieren sich im 16. und 17. Jahrhundert heraus. Für Europa prägend sind zunächst die großen orientalischen und romanischen Sammlungen von Märchen, Sagen und anderen Wundergeschichten, die spätestens im 18. Jahrhundert die literarische und die nichtliterarische Tradition in vielen Ländern deutlich beeinflußt haben.
Die schriftliche Fixierung - das "Aufschreiben" - mündlich tradierter Erzählstoffe steht jedoch immer in Zusammenhang mit den literarischen Strömungen der jeweiligen Epoche. Märchen, Sagen, Legenden und andere volkstümliche Dichtungen müssen daher stets aus dem spezifischen ästhetischen Blickwinkel ihrer Zeit betrachtet und in ihrer konkreten verschriftlichten Textgestalt kritisch bewertet werden. Dies zeigen beispielsweise die barock stilisierten Märchenerzählungen von Gianfrancesco Straparola und Giambattista Basile aus dem 16. und 17. Jahrhundert ebenso wie die galanten und häufig ironisch nacherzählten sog. "Feenmärchen" von Charles Perrault und anderen Dichtern der französischen Salonliteratur des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts. Obwohl sie motivisch und stofflich wenigstens teilweise aus volkstümlichen Quellen geschöpft zu sein scheinen, zeigen sie in Sprache und Komposition dennoch die elegante Erzählhaltung der Kunstprosa ihrer Zeit.
Bevor schließlich auch in Deutschland eigenständige Märchensammlungen erschienen, wurden zunächst vor allem die französischen "Feenmärchen" sowie die ebenfalls über Frankreich vermittelten orientalischen Märchen aus der Sammlung der "Tausend und eine Nacht" und anderer in deutschen Übersetzungen verbreitet. Von 1782 bis 1787 gab dann der Weimarer Gymnasialprofessor Johann Carl August Musäus seine "Volksmärchen der Deutschen" in fünf Bänden heraus, und ebenfalls fünfbändig erschienen hernach von 1789 bis 1793 die "Neuen Volksmärchen der Deutschen" der Leipziger Unterhaltungsschriftstellerin Benedikte Naubert. Typisch für diese beiden sowie für zahlreiche weitere mit "Ammenmärchen", "Kindermärchen" oder "Wintermärchen" betitelte Sammlungen ist die Vermischung von Märchen-, Sagen- und Legendenelementen mit Versatzstücken aus der in- und ausländischen Literatur der Zeit.
Angeregt durch das Vorbild der als "wild", "frey" und "lebendig" verstandenen Ossian-Dichtungen des schottischen Schriftstellers James Macpherson und beeinflußt durch die vor allem von Johann Gottfried Herder ausgelöste Diskussion um das Verhältnis von "Kunst-" und "Naturpoesie" wurde am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts neben dem Volkslied auch das Märchen und die Sage vermehrt von der Dichtkunst entdeckt.
"Es ist wohl nicht zu zweifeln, daß Poesie und insonderheit Lied im Anfang ganz Volksartig (...) gewesen (...). Sie lebte im Ohr des Volks, und auf den Lippen und der Harfe lebendiger Sänger: Sie sang Geschichte, Begebenheit, Geheimniß, Wunder und Zeichen: Sie war die Blume der Eigenheit eines Volks, seiner Sprache und seines Landes (...), seiner Musik und Seele", schrieb Herder programmatisch in der Vorrede zu seinen 1778-1779 erschienenen Volksliedern.
Vor allem die Romantiker in ihrer ausdrücklichen Hervorhebung des Wunderbaren und Übernatürlichen und der bewußten Durchbrechung von Kausalität und Erfahrung der Wirklichkeit wandten sich dem Märchenthema zu, wobei sie nicht allein traditionelle Märchenstoffe neu gestalteten oder in ihre Dichtungen einbanden, sondern selbst kunstvoll komponierte neue Märchendichtungen schufen. Das "ächte Märchen" mußte für die Romantiker "zugleich Prophetische Darstellung" sein, der "ächte Märchendichter (...) ein Seher der Zukunft", schrieb Novalis 1800 in einem Brief an Friedrich Schlegel.
Neben Novalis, dessen Roman Heinrich von Ofterdingen "allmälich in Märchen übergehen" sollte, spielten in der Märchenbegeisterung der Romantik vor allem Ludwig Tieck, Carl Wilhelm Contessa, Friedrich de La Motte-Fouqué und E.T.A. Hoffmann eine wichtige Rolle. Von den Heidelberger Romantikern um Achim von Arnim und Clemens Brentano führte dann ein direkter Weg zu den Brüdern Jacob und Wilhelm Grimm.