Ziele
Die Brüder Grimm-Gesellschaft e.V. (BGG) will im Zusammenwirken mit verschiedenen literarischen Gedenkstätten sowie weiteren Institutionen des In- und Auslandes gemäß ihrer Satzung „im Geiste der Brüder Grimm der Pflege und Förderung deutscher Kultur“ dienen. Dies soll geschehen durch Veröffentlichungen – insbesondere durch kritische Ausgaben der Werke der Brüder Grimm –, durch die Weiterführung ihres Lebenswerkes und ihrer Anregungen, durch Vorträge, Tagungen, Kolloquien und Ausstellungen.
Nach der durch den Antrag des Vorstandes der Brüder Grimm-Gesellschaft im Sommer 2005 erfolgten Anerkennung der „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm als "Weltdokumentenerbe" (Memory of the World · Patrimoine Documentaire du Monde) der UNESCO wurden verschiedene Initiativen zur weiteren Entwicklung, Förderung und Vernetzung der auf die Brüder Grimm und ihr monumentales Werk bezogenen Aktivitäten ergriffen. Dabei wurden insbesondere die folgenden Ziele formuliert:
1. Die »Kinder- und Hausmärchen« als Welterbe der Menschheit – Ihre Bedeutung und ihr Auftrag
Mit ihrer 1812 und 1815 in zwei Bänden erstmals erschienenen Märchensammlung wollten die Brüder Grimm unter dem Einfluß der romantischen Bewegung die »Poesie des Volkes« aufsammeln und vor dem Vergessen retten; gleichzeitig verstanden sie ihre Märchen auch als »Erziehungsbuch«. Mit den Grimmschen Märchen wächst bis heute fast jedes Kind in der Welt auf. Für die Persönlichkeitsbildung der Heranwachsenden, für die Entwicklung ihrer Phantasie und Kreativität sowie für ihre sprachliche Schulung sind die Grimmschen Märchen von überragender Bedeutung. Das Grimmsche Märchenwerk muß daher nicht nur weiter wissenschaftlich erschlossen und analog sowie digital weltweit besser zugänglich gemacht werden, es muß auch sinnlich erfahrbar und durch geeignete Veranstaltungen populär einem sehr breiten Publikum vermittelt werden.
2. Die Wiederentdeckung von Sprache und Literatur – Sprachtheorie und Sprachkultur
Die Brüder Grimm verstanden unter Sprachkultur nicht die Hochkultur von Eliten, sondern das kulturelle Erbe des gesamten Volkes. Sie arbeiteten an der Geschichte der Literatur, um damit nicht nur ihre Gegenwart zu verstehen, sondern auch die Zukunft ihres Volkes zu gestalten. Literatur und Geschichte waren für sie ein Kontinuum – und sollten es auch für uns sein. Ihr Kulturverständnis kann heute helfen, den Gegensatz von klassischer Kultur und Popkultur zu überwinden. Die Brüder Grimm hatten ein breites, offenes Verständnis von Sprache als der ‘Poesie der Völker’, das weit über die germanistische Engführung der Folgezeit hinausgeht. Ihr Werk gibt Anregungen für unsere Aufgabe in einer globalen Kommunikationsgesellschaft: Sprachen sollen nicht nivelliert, sondern in ihrer regionalen Vielfalt verständlich gemacht werden.
3. Gesellschaftliches Engagement und Zivilcourage – Die Brüder Grimm als Vorbild
Die Brüder Grimm verstanden, wie ihr Freund Friedrich Christoph Dahlmann, unter Politik nicht die obrigkeitliche Herrschaft und den Machtstaat, sondern die Gemeinschaft der Staatsbürger. Ihr Einstehen in der Gruppe der sieben Göttinger Professoren 1837 für eine gute Verfassung hat exemplarische Bedeutung für die heutige Verantwortung der Bürger im Staat, für eine gute Politik, notfalls bis zum Einsatz des Widerstandsrechtes. Jacob und Wilhelm Grimm haben ihr Handeln stets aus historisch gewachsenem und begründbaren Recht und auf der Grundlage der Freiheit des Einzelnen nach bestem Wissen und Gewissen abzuleiten gesucht; dabei haben sie auch eigene Nachteile in Kauf genommen. »Das deutsche Volk ist ein Volk von Freien, und deutscher Boden duldet keine Knechtschaft. Fremde Unfreie, die auf ihm verweilen, macht er frei«, – schrieb Jacob Grimm 1848 als Abgeordneter der ersten Deutschen Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche.
4. Botschaft an das zusammenwachsende Europa – Bewahrung der Identität durch Integration
Das wissenschaftliche und öffentliche Wirken der Brüder Grimm beschränkte sich nicht allein auf Deutschland, sondern bezog auch die Nachbarländer immer in den Blick. Ihre Werke lesen sich daher wie eine Enzyklopädie europäischer Kulturgeschichte, in der fast jedes europäische Volk mit seiner Sprache, Literatur und Geschichte Berücksichtung gefunden hat. Die Brüder Grimm wollten mit ihren Freunden zur Bildung der deutschen Nation in einem doppelten Sinne beitragen. Sie wollten die Deutschen über ihr historisches Erbe aufklären und gleichzeitig den Prozeß der Nationswerdung fördern. Dieses Recht sprachen sie jedem Volk zu. Sie behaupteten keinen nationalistischen Vorrang der Deutschen vor ihren Nachbarn, sondern gingen von der Gleichheit gebildeter und zu bildender Nationen in der Völkergemeinschaft aus. Aus diesem Nationsverständnis können wir lernen, daß die deutsche Nation wie auch ihre Nachbarnationen durch die europäische Integration nicht verschwinden, sondern darin im Hegelschen Sinne »aufgehoben«, d.h. bewahrt werden.
5. Von Hessen in die ganze Welt – Das internationale Netzwerk der Brüder Grimm
Jacob und Wilhelm Grimm haben zeitlebens in einer beispiellosen brüderlichen Lebens- und Arbeitsgemeinschaft gelebt und gearbeitet. Ihr Weg führte von einer lokalen und regionalen Heimat zur deutschen Nation, ihr Selbstverständnis nahm dabei europäische Dimensionen an. Sie waren ihrer hessischen Herkunft stets sehr verbunden, sowohl den südhessischen Orten ihrer Geburt und Jugend als auch dem nordhessischen Kassel als der Stadt ihrer schöpferischsten und fruchtbarsten Lebensphase. Doch durch ihr Werk, die Sammlung und Erforschung deutscher Überlieferungen, insbesondere der Märchen und Sagen, der Literatur des Mittelalters, der Rechtsaltertümer und Wörter, wurden sie zu intellektuellen Vorreitern einer deutschen Kulturnation, die schließlich die politischen Bemühungen um die nationalstaatliche Einheit Deutschlands unterstützten. Gleichzeitig stimulierten die Brüder Grimm auch die anderen Völker Europas, sich ebenfalls ihres kulturellen Erbes bewußt zu werden und es zur Grundlage einer eigenständigen politischen Identität zu machen. So ist es nur folgerichtig, daß Jacob und Wilhelm Grimm fachliche und freundschaftliche Beziehungen zu zahlreichen Gelehrten, Schriftstellern und Künstlern ihrer Zeit in fast ganz Europa unterhielten und gleichzeitig Mitglieder vieler in- und ausländischer gelehrter Gesellschaften und Akademien waren. Dieses umfassende Netzwerk ist umso beeindruckender, da die Grimms nicht über moderne Kommunikations- und Wiedergabemittel verfügten.
Die Brüder Grimm-Gesellschaft unterstützt auf dieser Grundlage den interdisziplinären internationalen wissenschaftlichen Diskurs und lädt nachdrücklich zur Mitwirkung daran ein.