Sprache und Literatur
In einer von großen politischen und kriegerischen Auseinandersetzungen geprägten Zeit, in der Napoleon fast ganz Europa unter seiner Herrschaft brachte und das hessische Kassel zur Residenz eines "Westphälischen Königreiches" machte, begannen Jacob und Wilhelm Grimm – kaum zwanzig Jahre alt – mit ihren "altdeutschen Studien". Sie wollten die "schlafende Schrift" der alten deutschen Literatur wieder zum Leben erwecken und für ihre Gegenwart unmittelbar fruchtbar machen. Es ging ihnen dabei nicht um die "Worte" der von ihnen untersuchten und herausgegebenen Literatur- und Sprachdenkmäler allein; vielmehr suchten sie auch "die Worte um der Sachen willen" zu ergründen.
Sprache hatte für sie immer auch eine Geschichte: sie war weder angeboren noch von Gott eingegeben, sondern das Werk des Menschen und seines Denkens. "Die Kraft der Sprache bildet Völker und hält sie zusammen, ohne ein solches Band würden sie sich versprengen", – schrieb Jacob Grimm 1851 in seiner Akademie-Schrift "Über den Ursprung der Sprache".
Die germanischen Sprachen und Literaturen in all ihren historischen Ausprägungen und Entwicklungssträngen – freilich mit Ausblicken in zahlreiche benachbarte Gebiete – stellten den entscheidenden Dreh- und Angelpunkt der Grimmschen Forschungen dar. Mit ihrer bahnbrechenden historisch-vergleichenden Methode haben Jacob und Wilhelm Grimm nicht nur die heutige germanische Sprach- und Literaturwissenschaft, die "Germanistik", begründet, sondern alle modernen Philologien mitgeprägt.
Durch ihren bedingungslosen Rückgriff auf alle erreichbaren primären Sprachzeugnisse, durch sorgfältigen Vergleich alter Handschriften und Fragmente, durch die Einbeziehung literarischer und nicht-literarischer Quellen sowie durch die Wahrung des historischen Charakters der Sprache und der spezifischen poetischen Form der alten Texte gelang es ihnen, Sprach- und Literaturdenkmäler ohne fremde Zusätze und Umdichtungen aus der ihnen jeweils eigenen Zeit heraus zu verstehen. Auf diese Weise konnten sie bedeutende kritische Texteditionen alt- und mittelhochdeutscher sowie anderer mittelalterlicher Dichtungen vorlegen.
Schon 1812 stellten sie mit ihrer Ausgabe der "beiden ältesten deutschen Gedichte", des althochdeutschen "Hildebrandliedes" und des "Wessobrunner Gebets", ihre philologische Genauigkeit unter Beweis. Denn sie boten nicht allein einen zeilengenauen Abdruck des jeweiligen Handschriftentextes sowie eine ideale "Wiederherstellung" der poetischen Substanz der historischen Dichtungen, sondern sie lieferten neben einer wortgetreuen neuhochdeutschen Übersetzung auch eine freie Übertragung, die sie "Umschreibung" nannten.
Die große Bandbreite ihrer kritischen editorischen Tätigkeit zeigen weitere Ausgaben beispielsweise der "Merseburger Zaubersprüche", des "Rolandliedes", der Werke Hartmanns von Aue und Konrads von Würzburg, des Spruchdichters Freidank, der altnordischen "Edda" oder der weitverbreiteten Tiersagen von "Ysengrimus" und "Reinhart Fuchs" bis hin zu den umfangreichen Sammlungen der "Deutschen Rechtsaltertümer" und der "Weistümer". Mit seinem Hauptwerk über "Die germanische Heldensage" lieferte Wilhelm Grimm zudem die Verzeichnung aller erreichbaren Quellentexte und zugleich eine in sich geordnete Zusammenstellung des Sagengehalts der verschiedenen Heldendichtungen.
"Sowenig sich fremde edele Tiere aus einem natürlichen Boden in einen anderen verbreiten lassen, ohne zu leiden und zu sterben, sowenig kann die Herrlichkeit alter Poesie wieder allgemein aufleben, d.h. poetisch; allein historisch kann sie unberührt genossen werden", – schrieb Jacob Grimm 1809 an seinen Bruder Wilhelm. Und 1850 führte er weiter aus: "Critische philologie, sobald ihr mehrheit von handschriften eines werks vergönnt ist, pflegt nach dem alter wie nach andern inneren und äuszeren kennzeichen derselben sorgfältig stamm und verzweigungen des textes zu ordnen und an ihrem erlangten maszstab das echte oder falsche, das ursprüngliche oder anders gewordene oft mit dem glücklichsten scharfsinn zu ermitteln".
Die systematischen und kritischen Untersuchungen der Brüder Grimm führten zu bahnbrechenden Entdeckungen, die immer mit dem Namen Grimm verbunden bleiben werden. Jacob Grimm gelang beispielsweise in seiner gewaltigen, mehrere tausend Seiten umfassenden "Deutschen Grammatik" (1819-1837) erstmals die Formulierung des Gesetzes über die germanische und die hochdeutsche Lautverschiebung, d.h. die Darstellung des historischen Entwicklungsganges und gegenseitigen Verhältnisses aller germanischen Sprachen vom Gotischen bis zum Neuhochdeutschen. Heinrich Heine nannte die "Grammatik" Jacob Grimms "ein kolossales Werk, ein(en) gotische(n) Dom, worin alle germanischen Völker ihre Stimme erheben, wie Riesenchöre, jedes in seinem Dialekte".
Das in Kassel 1838 begonnene große "Deutsche Wörterbuch", das den gesamten neuhochdeutschen Wortschatz von Luther bis Goethe quasi als "eine Naturgeschichte der einzelnen Wörter" erfassen sollte, krönte die einmalige wissenschaftliche Leistung der Brüder Grimm. Das Grimmsche Wörterbuch, von dem zu Lebzeiten der Brüder Grimm nur die Stichwörter "A" bis "Frucht" vollendet wurden, umfaßte 1960 nach seiner Fertigstellung 16 Bände in 32 Teilbänden mit insgesamt 67.744 Spalten. Bis heute stellt dieses Werk eine der großartigsten Leistungen der europäischen Sprachwissenschaft überhaupt dar.