Europäische Weite
Das wissenschaftliche und öffentliche Wirken der Brüder Grimm beschränkte sich nicht auf die germanischen Sprachen, Literaturen und Völker, sondern reicht weit darüber hinaus.
Jacob und Wilhelm unterhielten fachliche und freundschaftliche Beziehungen zu vielen bedeutenden Gelehrten, Schriftstellern und Künstlern ihrer Zeit und waren Mitglieder zahlreicher in- und ausländischer gelehrter Gesellschaften und Akademien. Gerade weil sie die Geschichte ihres eigenen Volkes in umfassender Weise kannten, war ihr Verhältnis zu anderen Ländern und Kulturen sehr differenziert und aufgeschlossen.
"(…) so konnte nicht fehlen, dasz von unserm eigensten und unmittelbarsten standpunct aus zugleich der blick auf die uns benachbarten (…) sprachen lebhafter geworfen wurde, welchen allmählich alle die nemliche geschichtliche bedeutung und betrachtung zu theil geworden ist oder zweifelsohne werden wird. auf solche weise haben sich, wo nicht alle, doch die meisten glieder einer groszen fast unabsehbaren sprachkette gefunden, die in ihren wurzeln und flexionen aus Asien bis her zu uns reicht …" – schrieb Jacob Grimm 1851 in seiner Berliner Abhandlung über den Sprachursprung.
Die Titel der Grimmschen Werke lesen sich denn auch wie eine weit ausgreifende europäische Kulturgeschichte, in der beinahe jedes europäische Volk mit seiner Sprache, seiner Literatur und seiner Geschichte Berücksichtigung gefunden hat. Überdies waren die Sprach- und Literaturforschungen der Brüder Grimm häufig unmittelbares Vorbild für das Entstehen nationaler Philologien und haben vor allem die Keltistik, die Romanistik, die Slawistik und sogar die Baltistik und Finno-Ugristik deutlich befruchtet.
Schon 1811 ernannte die Keltische Akademie in Paris Jacob Grimm zu ihrem korrespondierenden Mitglied, und in der Folge kam es zu einem besonders fruchtbaren Austausch und Briefwechsel mit vielen französischen Philologen und Dichtern. Besonders die Erforschung der europäischen Tiersage stieß die Brüder Grimm immer wieder auf lateinische und französische Quellen wie den "Ysengrimmus" des flämischen Dichters Nivardus oder den anonymen altfranzösischen "Roman de Renard".
Während sich Wilhelm Grimm ausgiebig mit der romanischen Märchentradition sowie auch mit den romanischen Überlieferungen der Heldensage beschäftigte, edierte Jacob Grimm unter dem Titel "Silva de romances viejos" eine Sammlung altspanischer Helden- und Spielmannsdichtungen und veröffentliche Studien zur vergleichenden romanischen und germanischen Sprachgeschichte.
Unter unmittelbarem Rückgriff auf die Grimmsche Sammlung der "Deutschen Rechtsaltertümer" gab der französische Historiker Jules Michelet 1837 seine "Origines du droit français" heraus, die ohne die Grimmsche Vorarbeit nicht denkbar wären. Auch die erste grundlegende historische Grammatik der romanischen Sprachen, die Friedrich Diez 1836 bis 1844 herausgab, entstand unter dem direkten Einfluß des Grimmschen Vorbildes.
Die moderne keltische Philologie verdankt in ihren Anfängen zahlreiche Impulse ebenfalls den Brüdern Grimm. Früh schon pflegten diese Kontakte nach Schottland (Walter Scott) und Irland (Crofton Croker), später auch in die Bretagne (La Villemarqué).
Wilhelm veröffentlichte 1813 "Drei altschottische Lieder", 1826 erschienen die "Irischen Elfenmärchen" in der Übersetzung der Brüder Grimm, 1847 Jacobs Abhandlung "Über Marcellus Burdigalensis", in der er die ältesten damals bekannten keltischen Sprachzeugnisse erstmals erklären konnte. Auch der Verfasser der ersten historischen Grammatik der keltischen Sprachen, Johann Caspar Zeuß, bezieht sich unmittelbar auf das Grimmsche Vorbild.
Nicht zuletzt spielte auch die slawische Welt – zunächst über Wien, Prag und Königsberg vermittelt – eine wichtige Rolle im Werk der Brüder Grimm. Früh schon beschäftigten sie sich mit dem sog. altrussischen "Igorlied", dann mit den serbischen Volksepen, denen sie zu Weltruhm verhalfen. Andere Kontakte führten nach Böhmen, Polen, schließlich nach Rußland, wo die Grimmschen Arbeiten auf besonders fruchtbaren Boden fielen.
"Ihre Grammatik wird als Leitfaden bei der Bearbeitung der russischen benutzt; und Ihre deutsche Mythologie und die Rechtsaltertümer dienten mir zur Richtschnur …", – schrieb 1845 ein russischer Briefpartner (Ivan Snegirev) an Jacob Grimm.
Zahlreiche volkskundliche und sprachwissenschaftliche slawistische Arbeiten – etwa die klassische Sammlung der "Russische(n) Volksmärchen" von Aleksandr Afanas’ev oder die "Serbische Grammatik" von Vuk Karadžic – stehen deutlich unter dem Einfluß der Brüder Grimm. Dies betrifft auch die erste bedeutende historische Grammatik der slawischen Sprachen, die der Slowene Miklosich 1852 bis 1874 herausgab.
Weitere Arbeiten der Brüder Grimm widmeten sich schließlich noch Fragen der baltischen Sprachen und Volksdichtungen, dem finnischen "Kalevala"-Epos, neugriechischen Volksdichtungen und zahlreichen anderen Themen, die die ganze Bandbreite ihrer wirklich europäisch ausgerichteten Philologie belegen.
"Die wissenschaften erkennen keine grenzen", – schrieb Jacob Grimm 1853, – "im gegentheil ihr streben geht dahin, die abgesteckten unterschiede der völker zu überschreiten und das band zu festigen, das in weitem umkreis zwischen allen geschlungen werden soll …"