Europawoche im Brüder Grimm-Zentrum Kassel

Die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm
Märchensammlung, Sprachforschung, Politik
Von Hessen nach Deutschland und von Deutschland nach Europa

Ausstellung und Vortragsreihe

Die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm gehören zu den bedeutendsten Geistespersönlichkeiten der europäischen Kulturgeschichte und haben mit ihren „Kinder- und Hausmärchen“ Weltruhm erlangt. Geboren in der landgräflich-hessischen Nebenresidenz Hanau und aufgewachsen in dem kleinen Landstädtchen Steinau an der Straße, haben sie nach dem Studium in Marburg die „arbeitsamste und fruchtbarste Zeit“ ihres Lebens in Kassel verbracht. In Göttingen arbeiteten sie später als Professoren und Bibliothekare, bevor sie nach Berlin an die Königliche Akademie der Wissenschaften gingen, wo sie noch zwei Jahrzehnte bis zu ihrem Tode wirkten. Ihr Lebensweg von Hanau über die Residenz Kassel der Landgrafschaft bzw. des späteren Kurfürstentums Hessen bis in die preußische und nachmalige deutsche Hauptstadt Berlin markiert ebenso wie ihr monumentales in viele Bereiche ausgreifendes Wirken den Aufstieg vom „Kleinen und Unbedeutenden“ zu großen und weitgefaßten Wissenszusammenhängen. In aller Welt bekannt wurden Jacob und Wilhelm Grimm mit ihren 1812 und 1815 erstmals erschienenen Märchen, die bis heute in über 180 Sprachen und Kulturdialekte übersetzt wurden und, meist von Illustrationen begleitet, in millionenfacher Auflage verbreitet wurden. Neben der Luther-Bibel stellt die Grimmsche Märchensammlung das bekannteste und berühmteste deutsche Buch dar.

Methodisch dachten die Brüder Grimm aber nie in den engen Grenzen ihres eigenen Landes, sondern sie haben immer auch den inneren Zusammenhang und die vielfältigen gegenseitigen Einflüsse anderer europäischer Länder und Regionen in den Blick genommen. Sie gehören zu den Gelehrten in Deutschland, die schon im 19. Jahrhundert europäisch gedacht und gehandelt haben. Das zeigt auch ihr politisches Wirken, das beseelt war von einer klaren historischen und völkerverbindenden Konzeption.

In Kassel, der Stadt ihres längsten Wirkens, pflegt die Brüder Grimm-Gesellschaft seit 1897 (mit einigen zeitbedingten Unterbrechungen) das Erbe von Jacob und Wilhelm Grimm und präsentiert in ihrem Brüder Grimm-Zentrum am Brüder Grimm-Platz – direkt gegenüber der nördlichen Torwache, in der die Geschwister Grimm von 1814 bis 1822 wohnten – das Leben und Wirken der Märchensammler und Sprachforscher im Kontext ihrer Zeit.

„Es war vielleicht gerade Zeit, diese Märchen festzuhalten, da diejenigen, die sie bewahren sollen, immer seltner werden …“, – heißt es 1812 in der Vorrede zu den Märchen der Brüder Grimm. Über zweihundert Texte haben Jacob und Wilhelm Grimm schließlich zusammengetragen, wobei sie – vornehmlich in und von Kassel aus – sowohl aus mündlicher Überlieferung als auch aus schriftlichen Quellen geschöpft haben. Während Erinnerungen und Erlebnisse aus der eigenen Kindheit für die Grimmschen Märchen- und Sagensammlungen überlieferungsgeschichtlich kaum eine Rolle spielten, kam der entscheidende Anstoß zur Beschäftigung mit der „Volkspoesie“ in ihrer Marburger Studienzeit. Hier lernten Jacob und Wilhelm Grimm bei ihrem Lehrer, dem Rechtshistoriker Friedrich Carl v. Savigny, dessen Schwager Clemens Brentano kennen, der sie mit den Bestrebungen der Heidelberger Romantik vertraut machte.

Die Brüder Grimm sind aber nicht sagen- und märchensammelnd über Land gezogen. Auch ist der Anteil der „einfachen Leute“ an ihren Märchen und Sagen eher gering. Vielmehr wurden sie von über fünfzig Märchenbeiträgerinnen und Märchenbeiträgern vor allem aus Hessen und Westfalen unterstützt, die, wie sie selbst, vornehmlich aus den gebildeteren und wohlhabenden Schichten der Gesellschaft stammten und zumeist auch jüngeren Alters waren. So erfuhren sie zahlreiche Märchen aus den Kasseler Bürgerfamilien Wild und Hassenpflug. Aus der Schwalm kamen ihnen wichtige Texte durch die Pfarrerstochter Friederike Mannel und den Pfarrkandidaten Ferdinand Siebert zu. Aus Westfalen erhielten sie bedeutende Beiträge durch die Familie der Freiherren v. Haxthausen und durch die Schwestern Annette und Jenny v. Droste-Hülshoff. Nur die Gastwirtstochter und Schneidersfrau Dorothea Viehmann aus dem bei Kassel gelegenen Dorf „Zwehrn“ kam ihrer romantischen Vorstellung einer „Märchenfrau“ aus dem Volke nahe.

Überdies haben die Brüder Grimm (und teilweise auch wohl ihre Informanten) aus schriftlichen Quellen geschöpft, aus mittelalterlichen Versnovellen und Legenden, aus Schwank- und Anekdotenbüchern, aus Tierfabelsammlungen und Wunderzeichenbüchern und auch aus literarischen Werken des 17. und 18. Jahrhunderts. Gefragt werden muß auch nach der kulturellen Zuordnung der Grimmschen Märchen in Hessen und Deutschland. „In diesen Volks-Märchen liegt lauter urdeutscher Mythus, den man für verloren gehalten“, – heißt es 1815 in der Vorrede zum zweiten Band der „Kinder- und Hausmärchen“. An gleicher Stelle wird von den „ächt hessischen“ Märchen der Dorothea Viehmann oder von dem „rein deutschen“ Ursprung der Märchen gesprochen. Aber auch den Brüdern Grimm war die enge Verwandtschaft einiger ihrer Märchen mit der romanischen Überlieferung in Italien und Frankreich bewußt. Im Gegensatz zu vielen anderen Werken sind ihre Märchen im Titel nicht mit dem Attribut „deutsch“ belegt. Zwei in der Erstausgabe enthaltene Märchen, nämlich „Ritter Blaubart“ und „Der gestiefelte Kater“, haben sie später gar wieder aus der Sammlung herausgenommen, weil ihnen die Nähe zu Charles Perraults „La Barbe Bleue“ und „Le Maître Chat, ou le Chat Botté“ selbst zu offensichtlich erschien. Die besonders häufige Überschneidung vieler ihrer Märchentexte mit der romanischen Überlieferungstradition erklärt sich auch aus der Tatsache der hugenottischen Abstammung der bedeutendsten Kasseler Märchenbeiträger: Marie Hassenpflug und Dorothea Viehmann. Jedoch bei weitem nicht alle Texte der Sammlung sind italienischen oder französischen Vorbildern verpflichtet; dazu ist sie zu reichhaltig und vielschichtig. Die Märchen sind vielmehr, wie die Brüder Grimm später formulierten, „überall zu Hause“, bei allen Völkern und in allen Ländern.

Jacob und Wilhelm unterhielten fachliche und freundschaftliche Beziehungen zu vielen bedeutenden Gelehrten, Schriftstellern und Künstlern ihrer Zeit aus ganz Europa und waren auch Mitglieder zahlreicher ausländischer gelehrter Gesellschaften und Akademien. Gerade weil sie die Geschichte ihres eigenen Volkes in umfassender Weise kannten, war ihr Verhältnis zu anderen Ländern und Kulturen sehr differenziert und aufgeschlossen.

„(…) so konnte nicht fehlen, dasz von unserm eigensten und unmittelbarsten standpunct aus zugleich der blick auf die uns benachbarten (…) sprachen lebhafter geworfen wurde, welchen allmählich alle die nemliche geschichtliche bedeutung und betrachtung zu theil geworden ist oder zweifelsohne werden wird. auf solche weise haben sich, wo nicht alle, doch die meisten glieder einer groszen fast unabsehbaren sprachkette gefunden, die in ihren wurzeln und flexionen aus Asien bis her zu uns reicht (…)“ – schreibt Jacob Grimm 1851. Und Wilhelm Grimm schrieb 1843: „Wie kein einzelner Mensch, so kann auch kein Volk für sich bestehen. In der Berührung mit andern entwickeln sich die besten Kräfte, wird man seiner Eigentümlichkeit erst bewußt (…). Wer sein Licht einsam brennt, kann es nicht bei dem Nachbar wieder anzünden, wenn es der Wind ausgelöscht hat (…).

Die Titel der Grimmschen Werke lesen sich denn auch wie eine weit ausgreifende europäische Kulturgeschichte, in der beinahe jedes europäische Volk mit seiner Sprache, seiner Literatur und seiner Geschichte Berücksichtigung gefunden hat. Überdies waren die Sprach- und Literaturforschungen der Brüder Grimm häufig unmittelbares Vorbild für das Entstehen nationaler Philologien und haben vor allem die Keltistik, die Romanistik, die Slawistik und sogar die Baltistik und Finno-Ugristik deutlich befruchtet. „Die wissenschaften erkennen keine grenzen“, – schrieb Jacob Grimm 1853, – „im gegentheil ihr streben geht dahin, die abgesteckten unterschiede der völker zu überschreiten und das band zu festigen, das in weitem umkreis zwischen allen geschlungen werden soll (…)“.

Zur Europawoche 2021 präsentieren wir in unseren Ausstellungs- und Veranstaltungsräumen am Kasseler Brüder Grimm-Platz zum einen das europäische Wirken der Brüder Grimm, zum anderen ihre Rezeption in den Ländern der Europäischen Gemeinschaft. Für die Präsentation haben wir dafür zahlreiche biographische und zeitgeschichtliche Dokumente aufgearbeitet und die Rezeption die „Kinder- und Hausmärchen“ in vielen europäischen Sprachen und Kulturdialekten mit illustrierten Ausgaben vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart dargestellt.

Da die Pandemie anhält, wird die Ausstellung für einen längeren Zeitraum bereitgehalten; weitere Informationen, insbes. zu digitalen Formaten, werden derzeit zusammengestellt und demnächst hier präsentiert. Wir danken dem Hessischen Europa-Ministerium herzlich für die uns gewährte Unterstützung. bl + mj